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Regenbogenkompetenz als Bedingung einer gelingenden sozialen Arbeit

Eva Henkel zur Eröffnung des Fachtags „Homosexualität in der Familie – Angehörige kompetent beraten“ am 20.3.2014 in Berlin

 LSVD_henkel_evaSehr geehrte Frau Ministerin,

sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

sehr geehrte Referentinnen und Referenten,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

wer in der sozialen Arbeit tätig ist, lernt alle Facetten des menschlichen Lebens kennen. Je nach eigener Prägung und Erfahrung, sind manche Facetten vertrauter, andere sind weniger vertraut.

Die sexuelle Orientierung eines Menschen stellt ein wichtiges soziales Wesensmerkmal dar. Ob ein Mensch heterosexuell, bi‑, homosexuell oder transgender ist, wirkt sich auf das soziale Umfeld aus, auf die Beziehungen zum Freundes- und Bekanntenkreis, auf Partnerschaft und Familie.

Der Lesben- und Schwulenverband in Deutschland, LSVD, vertritt als Bürgerrechtsverband die Interessen von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intersexuellen. 2006 erhielt der LSVD offiziellen Beraterstatus bei den Vereinten Nationen. Neben dem Einsatz für gleiche Bürgerrechte leistet der LSVD auch Sozialarbeit und bietet umfangreiche Beratungsleistungen.

Unter dem Titel „Homosexualität und Familien – eine Herausforderung für familienbezogenes Fachpersonal“ führt der LSVD seit 2011 ein Projekt durch, das Trägern und Einrichtungen der sozialen Arbeit mit Familie ein ganzes Spektrum an Unterstützung bietet: dazu gehören Vorträge und Fortbildungen genauso wie die kollegiale Beratung und Vernetzung und die Bereitstellung von Informations- und Übungsmaterial. Gefördert wird das Projekt vom Bundesfamilienministerium. Die wissenschaftliche Begleitung und Verankerung gewährleistet ein wissenschaftlicher Beirat.

 

Beratungsbedürfnisse von Angehörigen Homosexueller

Ilka Borchardt als Projektleiterin und Heiko Reinhold als stellvertretender Leiter des Projekts sind in Hochschulen gegangen, haben den Kontakt zu Einrichtungen der Familienbildung und ‑beratung gesucht, haben gemeinsam mit den Trägern Veranstaltungen durchgeführt, deren Schwerpunkt auf den Anliegen und Beratungsbedürfnissen von Angehörigen Homosexueller liegt. Die Fachkräfte in der Familiensozialarbeit sind zentrale Ansprechpartner für Angehörige. Doch oft fehlen in den verschiedenen sozialen Einrichtungen deutliche Signale der Offenheit und Kompetenz im Umgang mit Fragen der sexuellen Identität. Wer aber Rat sucht, ist genau auf diese Signale angewiesen, um Beratungsangebote überhaupt in Anspruch nehmen zu können.

Über ihren Austausch mit den Fachkräften der Familiensozialarbeit werden Ilka Borchardt und Heiko Reinhold uns gleich berichten. Wie waren ihre Erfahrungen? Sind sie auf Offenheit gestoßen oder prägten eher vorgefasste Einstellungen den Dialog? Welche Bedürfnisse hat das Fachpersonal formuliert? Wie differenziert vorgegangen wurde, wie sensibel die Wahrnehmung und der Austausch waren, vermittelt bereits das Handbuch „Homosexualität und Familie“, das für Sie in Ihrer Tagungsmappe beigelegt ist.

Mich hat die Arbeit der Beiden sehr beeindruckt. Und ich möchte Ihnen an dieser Stelle sehr herzlich für das große und ernsthafte Engagement danken.

Ilka und Heiko werden gleich Gelegenheit haben, ausführlicher über ihre Projekterfahrung zu berichten.

 

Große Bandbreite sozialer Erfahrungen

Der Titel unseres Fachtages „Homosexualität in der Familie“ umspannt eine große Bandbreite sozialer Erfahrungen: Was passiert, wenn die eigene Mutter nach langjährigem Ehe- und Familienleben plötzlich ihre Liebe zu einer anderen Frau entdeckt? Was, wenn der eigene Schwiegersohn sich zu einem anderen Mann hingezogen fühlt? Wie erleben die Kinder eine Trennung der Eltern, deren Auslöser nicht eine neue heterosexuelle Beziehung des Vaters ist, sondern dessen neue Beziehung zu einem Mann?

 

Spätes Coming-out

Zu diesem Themenkomplex eines „Späten Coming-out“ haben Frau Dr. Dieckmann und Frau Prof. Steffens an der Universität Jena geforscht. Die beiden Wissenschaftlerinnen haben die erste Studie im deutschsprachigen Raum veröffentlicht, die sich insbesondere auf die Perspektive von Angehörigen konzentriert. Ich bin sehr gespannt auf die Ergebnisse der Studie, die Frau Dr. Dieckmann uns gleich vorstellen wird.

Auch anderen Fragestellungen hat sich das Projekt „Homosexualität und Familien“ in den vergangenen drei Jahren gewidmet. Dazu gehören etwa Konstellationen wie die von Großeltern in einer Regenbogenfamilie. Welche Rolle wächst Eltern zu, wenn die homosexuelle Tochter oder der homosexuelle Sohn sich für Kinder entscheidet? Was passiert, wenn die werdenden Großeltern mit Vorurteilen von Freunden, Bekannten oder Nachbarn konfrontiert sind, die die Freude auf das Enkelkind erheblich trüben können? Was, wenn dazu eigene Vorbehalte kommen, die möglicherweise das Verhältnis zum Kind und Enkelkind belasten? Welche Unterstützung kann geboten werden, damit diese gänzlich neue Rolle wirklich mit Freude ausgefüllt werden kann und sich auf mögliche Vorurteile und Anfeindungen selbstbewusst reagieren lässt?

 

Erfahrung von Migration

Wieder andere Fragestellungen ergeben sich schließlich aus der Erfahrung von Migration.

Von einem „Lebensgefühl der Entfremdung“ sprechen etwa die Journalistinnen Alice Bota, Khuê Pham und Özlem Topçu. Ich zitiere: „Sie wird begleitet von der Angst, die anderen in der Harmonie ihrer Gleichheit zu stören. Von der Angst, von den anderen als Fremdkörper wahrgenommen zu werden. (…) Wir wollen normal sein, und wenn das nicht geht, wollen wir wenigstens so tun, als ob.“

Eine umso wichtigere Rolle spielen vor diesem Hintergrund die Familie und der familiäre Zusammenhalt. Familie bietet Stabilität, Zugehörigkeit, „Heimat“. Umgekehrt heißt das allerdings auch, dass dieser Schutz nicht aufs Spiel gesetzt werden darf. Die Aussicht, ihn verlieren zu können, löst Angst und Anpassungsdruck aus. Das gilt umso mehr für migrierte Schwule und Lesben oder für Kinder aus Migrationsfamilien, die mit ihrem Coming-out riskieren, gleich von zwei Seiten als „anders“ wahrgenommen zu werden.

Dies heißt nun aber nicht, dass Migration Anlass sein darf, pauschal über die Situation homosexueller Migrantinnen und Migranten zu urteilen. Migrationsfamilien sind genauso vielfältig wie die Familien in der Mehrheitsgesellschaft.

 

Komplexität von Erfahrung

Ob Migrationskontext, Eltern- und Großelternschaft oder ein spätes Coming-out – die Erfahrung von Homosexualität in Familien ist vielgestaltig und komplex.

Gudrun Held vom Bundesverband der Eltern, Freunde und Angehörigen Homosexueller befah e.V. und Sharon Rieck von der Fraueninitiative tangiert, die die Interessen von Partnerinnen und Partner bi- oder homosexueller Männer wahrnimmt, werden uns Einblicke in die Vielschichtigkeit familiärer und partnerschaftlicher Erfahrung geben und formulieren, welche beratenden Angebote aus ihrer Sicht wünschenswert und erforderlich sind.

Denn der Komplexität von Erfahrung – der homosexuellen Menschen genauso wie der ihrer Familien – steht oft noch eine einseitige, zum Teil stereotypisierende Wahrnehmung der Beratungs- und Bildungsarbeit gegenüber. Gerade hier aber besteht die Herausforderung darin, zum einen sensibel Differenzen wahrzunehmen, zum anderen diese aber nicht überzubewerten, damit keine zu große Distanz und Fremdheit zwischen Ratsuchendem und Beratendem entsteht. Zugleich muss Verunsicherung ernst genommen und die möglicherweise auch eigene Ambivalenz und Unsicherheit erkannt und damit umgegangen werden.

 

Regenbogenkompetenz

Wie aber sieht diese „Regenbogenkompetenz“, die Voraussetzung und Bedingung einer gelingenden sozialen Beratung und Begleitung ist, konkret aus? Und wie können sich Fachkräfte der sozialen Arbeit diese Kompetenz aneignen? Das wird Frau Prof. Schmauch von der Fachhochschule Frankfurt/Main darstellen.

In der anschließenden Diskussion wollen wir gemeinsam auch über die Perspektiven und die Erfordernisse einer „regenbogenkompetenten“ sozialen Beratung sprechen. Frau Gudrun Zollner, Abgeordnete des Bundestages und Mitglied im Familienausschuss, wird auf die mögliche politische Flankierung eingehen. Wolfgang Barth vom Bundesverband der AWO, der die Abteilung Migration interkulturelle Öffnung leitet, sowie Hiltrud Stöcker-Zafari, die Bundesgeschäftsführerin des Verbands binationaler Familien und Partnerschaften e.V. ist, erlauben Einblicke in persönliche Erfahrungen sowie aktuelle und künftige Fachstrukturen. Ich freue mich auf eine rege Diskussion.

Durch die Veranstaltung führen und die Diskussion moderieren wird Frau Dr. Julia Borggräfe.

Ich wünsche uns an diesem Nachmittag interessante Einblicke in jüngste Forschungsergebnisse, einen anregenden Austausch über Erfahrungen aus der vielfältigen Praxis und eine lebhafte Podiumsdiskussion. Und natürlich nicht zuletzt die Gelegenheit, neue Kontakte zu knüpfen und bereits bestehende zu vertiefen.

 

Eva Henkel

LSVD-Bundesvorstand

 siehe auch:

Homosexualität in der Familie. LSVD-Handbuch für familienbezogenes Fachpersonal

Pressemeldung des LSVD
Erdbeben in der Familie — Probleme beim späten Coming-out
Projektwebseite: Homosexualität und Familien — eine Herausforderung für familienbezogenes Fachpersonal


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