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Der Bundestag hat die Urteile schon als Unrecht anerkannt, es geht nun um die praktische Umsetzung

Öffentliche Anhörung zur Rehabilitierung und Entschädigung im Rechtsausschuss des Bundestags, Statement von Ulrich Kessler

Ulrich Kessler - Foto: privatHerr Vorsitzender, sehr geehrte Damen und Herren,

zunächst möchte ich nicht verhehlen, dass ich das Anliegen der beiden zur Diskussion stehenden Drucksachen seit geraumer Zeit politisch unterstütze, und zwar durch Mitarbeit bei der Bundesarbeits- gemeinschaft schwuler Juristen und Mitgliedschaft im Lesben- und Schwulenverband in Deutschland. Mein Beruf als Richter bringt es aber auch mit sich, dass ich beim Thema Unabhängigkeit der Justiz durchaus sensibel bin.

Diese Unabhängigkeit der Justiz sehe ich durch die angestrebte gesetzliche Kassation einer eng umgrenzten Gruppe von Urteilen nicht gefährdet. Richterliche Unabhängigkeit bedeutet zunächst Freiheit von Einflussnahme auf die Entscheidungsfindung. Hier geht es aber um rechtskräftige Urteile, d.h. die richterliche Entscheidungsfindung ist längst abgeschlossen. Die Aufhebung eines rechtskräftigen Urteils durch Gesetz, also die – in Anführungszeichen – „Anmaßung“ des Gesetzgebers, es besser zu wissen als die Rechtsprechung, beeinflusst die Unabhängigkeit nur sehr entfernt. Problematisch wäre es etwa, wenn bei der dritten Gewalt der Eindruck aufkommen sollte, regelmäßig Gefahr zu laufen, nur für den Papierkorb zu arbeiten, also tatsächlich en quelque façon nulle zu sein. Dass eine solche gesetzgeberische Maßnahme aber – wenn überhaupt – nur in besonders rechtfertigungsbedürftigen Ausnahmefällen in Betracht kommt, dürfte unstrittig sein.

Das Bundesverfassungsgericht hat eine solche besondere Rechtfertigung u.a. angenommen unter der Voraussetzung, dass ein Gesetz gravierendes Unrecht verkörperte und deshalb auch darauf beruhende Urteile offenbares Unrecht darstellen. Genau darum geht es hier: Die politische Entscheidung, die Fortgeltung des § 175 und die darauf beruhenden Urteile als Unrecht anzuerkennen, hat der Bundestag, also das Gesetzgebungsorgan, längst getroffen, allerdings bislang nicht in Gesetzesform, sondern nur in Form einer Entschuldigung. Die praktische Umsetzung, die Betroffenen vom Strafmakel zu befreien, muss deshalb auch so erfolgen, dass zunächst der Gesetzgeber das Unrecht in Gesetzesform beseitigt, um den darauf basierenden Urteilen die Grundlage zu entziehen, d.h. die Richter nachträglich von der Bindung an das unrechtmäßige Gesetz zu befreien. Das ist kein Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit, sondern originäre Zuständigkeit des Gesetzgebers.

Ernsthafter zu diskutieren ist meiner Meinung nach, ob mit Rücksicht auf die Gewaltenteilung eine gesetzliche Kassation zulässig ist, oder ob ein neuer Wiederaufnahmegrund in der Strafprozessordnung geschaffen werden soll, wie dies einige der Sachverständigen vorgeschlagen haben. Das wäre aus meiner Sicht zwar besser als gar nichts, aber nur die zweitbeste Lösung.

Zunächst einmal rein praktisch: Herr Bruns und Herr Grau haben bereits darauf hingewiesen, dass trotz der beachtlichen Zahl von Verurteilungen uns heute kaum Betroffene persönlich bekannt sind. Wir können davon ausgehen, dass die Erfahrungen des Strafverfahrens, das häufig mit der Vernichtung der bürgerlichen Existenz verbunden war, die Betroffenen nachhaltig traumatisiert haben. Deshalb dürfte die Bereitschaft, sich jetzt nochmals einem Gerichtsverfahren zum gleichen Vorwurf zu unterziehen, denkbar gering sein.

Zurück zum Maßstab des Bundesverfassungsgerichts: War das gesetzgeberische Unrecht so groß und deshalb die darauf beruhenden Urteile so offenbares Unrecht, dass eine Generalkassation zulässig ist? Hier möchte ich ganz entschieden der Auffassung widersprechen, wir hätten es bei der Einschätzung des § 175 nur mit einem Wandel der gesellschaftlichen Haltung zur Sexualität zu tun. Diesen Wandel gibt es natürlich. Aber: Sonstige Bestimmungen des Sexualstrafrechtes regeln nur Einschränkungen in Einzelbereichen. Das betrifft etwa die Partnerwahl – so heute noch durch das Inzestverbot, früher auch durch die Strafbarkeit des Ehebruchs, und natürlich durch den Schutz von Kindern und Jugendlichen. Zum anderen betrifft es die Gelegenheit – heute etwa noch durch das Verbot der Erregung öffentlichen Ärgernisses, früher mittelbar auch durch das Verbot der Kuppelei. Solche Einschränkungen stellen aber nicht die sexuelle Identität als solche in Frage. Es kann daher darüber diskutiert werden, inwieweit derartige Beschränkungen der allgemeinen Handlungsfreiheit im Einzelnen zulässig oder geboten sind. Dabei geht die Tendenz nicht zwingend in Richtung, gesetzliche Einschränkungen zurückzunehmen, wie die Entwicklung der Jugendschutzbestimmungen der letzten Jahre zeigt.

Nur die Strafbarkeit homosexueller Handlungen negiert das Recht schwuler Männer auf Sexualität zur Gänze. In dieser Missachtung liegt das besondere Unrecht, dass eine Generalkassation in diesem Fall rechtfertigt.

Es gilt das gesprochene Wort.

Ulrich Kessler
Richter am Verwaltungsgericht Berlin,
Vorstand des LSVD Berlin-Brandenburg

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