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Vor 50 Jahren

Sittenstrafrecht gegen Homosexualität

Wo die gleichgeschlechtliche Unzucht um sich gegriffen und großen Umfang angenommen hat, war die Entartung des Volkes und der Verfall seiner sittlichen Kräfte die Folge.“ Diese Aussage stammt nicht etwa aus der Zeit der NS-Diktatur. Sie findet sich im Entwurf eines neuen Strafgesetzbuches, den die Bundesregierung am 4. Oktober 1962 dem Bundestag vorlegte (BT-Drs. IV/650, S. 377). Bundeskanzler war damals Konrad Adenauer (CDU). Der Justizminister hieß Wolfgang
Stammberger (FDP).

Bereits 1954 hatte die Bundesregierung eine „Große Strafrechtskommission“ bestehend aus Professoren, Richtern und Bundestagsabgeordneten berufen, um in Anknüpfung an frühere Reformversuche ein neues Strafgesetzbuch auszuarbeiten. Diese Kommission plädierte 1959 mehrheitlich dafür, die so genannte „einfache Homosexualität“, also sexuelle Handlungen unter erwachsenen Männern, künftig straffrei zu lassen. Das Justizministerium, 1957–1961 vom äußerst konservativen CSU-Politiker Fritz Schäffer geführt, verwarf diese Empfehlung – laut einem „Spiegel“-Bericht vom 3. Februar 1960 „mit Rücksicht auf die christkatholische Mehrheit im Bundestag“. Dementsprechend hielt der Entwurf von 1962 (abgekürzt: E 1962) an einem grundsätzlichen Verbot der „Unzucht zwischen Männern“ fest. Schäffers Nachfolger Stammberger, im Amt seit November 1961 und übrigens ein Onkel der heutigen Justizministerin, konnte oder wollte daran anscheinend nicht rütteln.

Angst vor einer sittlichen Degeneration
In der amtlichen Begründung des E 1962 werden Einwände gegen die Strafbarkeit von Homosexualität zwar kurz referiert. Auch wird eingeräumt, dass für Männer, die „aufgrund ihrer Veranlagung mit dem gleichgeschlechtlichen Trieb behaftet sind“, die Bestrafung „eine Härte“ darstelle. Ihnen sei aber unter „Anspannung der seelischen Kräfte“ Enthaltsamkeit zuzumuten. Und über- haupt meinte man zu wissen, „daß an Verfehlungen gegen § 175 StGB über- wiegend Personen beteiligt sind, die nicht aus angeborener Neigung handeln, sondern durch Verführung, Gewöhnung oder geschlechtliche Übersättigung dem Laster verfallen sind oder die sich aus reiner Gewinnsucht dem gleichgeschlecht- lichen Verkehr dienstbar machen“.

Bei einer Entkriminalisierung – so warnt der E 1962 – würde es im öffentlichen Dienst, bei der Bundeswehr und anderen Männergemeinschaften zu verderblichen homosexuellen Gruppenbildungen kommen und damit zu einer „Verfälschung des öffentlichen Lebens mit kaum absehbaren Folgen“. „Die werbende Tätigkeit homosexueller Gruppen im öffentlichen Leben würde wesentlich erleichtert“, via „Propaganda durch Wort, Schrift oder Bild“. Das würde „jüngere Menschen in den Bann dieser Bewegung ziehen“. Und am Schlimmsten: „Vor allem stände auch für die Homosexuellen nichts im Wege, ihre nähere Umgebung durch Zusammenleben in eheähnlichen Verhältnissen zu belästigen.“

Die damalige Bundesregierung benutzt nicht nur eine ausgesprochen gehässige und verächtliche Sprache. Sie schreibt der Homosexualität eine geradezu magische Anziehungskraft zu und phantasiert sie als gefährliche, massiv infektiöse Degenerationsgefahr für die Gesellschaft. Das Ganze gipfelt in der Aussage: „Ausgeprägter als in anderen Bereichen hat die Rechtsordnung gegenüber der männlichen Homosexualität die Aufgabe, durch die sittenbildende Kraft des Strafgesetzes einen Damm gegen die Ausbreitung eines lasterhaften Treibens zu errichten, das, wenn es um sich griffe, eine schwere Gefahr für eine gesunde und natürliche Lebensordnung im Volke bedeuten würde.“

Deshalb sieht es die Regierung als gerechtfertigt an, solche „Fälle ethisch besonders verwerflichen und nach der allgemeinen Überzeugung schändlichen Verhaltens auch dann mit Strafe zu bedrohen, wenn durch die einzelne Tat kein unmittelbar bestimmbares Rechtsgut verletzt ist“. Auf eine Erörterung, ob die Strafbarkeit einvernehmlicher Sexualität Grundrechte verletzt, lässt sich der Entwurf überhaupt nicht ein. Der Einwand, dass die Bestrafung männlicher Homosexualität gegen den Gleichheitsgrundsatz in Art. 3 GG verstoße, wird schroff vom Tisch gewischt. Der sei wegen des biologischen Unterschiedes zwischen Mann und Frau „ohne jede Bedeutung“. Eine Auseinandersetzung darüber, ob ein Verbot homosexueller Handlungen gegen das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 GG) verstößt, findet mit keiner einzigen Silbe statt. Mit Freiheit und Selbstbestimmung hatten die Sittenwächter absolut nichts im Sinn.

Nur ein Zugeständnis wollte die Regierung 1962 machen, wenn auch erkennbar widerwillig. Obwohl man die NS-Verschärfung des § 175 eigentlich „folgerichtig“ fand, war man bereit, bei der „einfachen Homosexualität“ zur Rechtslage vor 1935 zurückzukehren und die Strafbarkeit auf Handlungen zu beschränken, „die in einer unmittelbaren Nachahmung des natürlichen Beischlafs bestehen“. Somit wäre „wechselseitige Onanie unter Männern“ wieder straffrei geworden. Bei der Strafbarkeit der mannmännlichen Prostitution und der „Unzucht“ mit unter 21jährigen sollte es aber bei der NS-Fassung bleiben.

Bereits damals kritische Stimmen
Der E 1962 ist nie Gesetz geworden. Er sorgte insgesamt durch seine rückwärtsgewandte Ausrichtung für große Empörung in der öffentlichen Meinung, auch beim Thema Homosexualität. „Überall (…) unhaltbare oder bereits widerlegte Mutmaßungen“ kritisierte zum Beispiel der Kriminologe Armand Mergen in dem Sammelband „Plädoyer für die Abschaffung des § 175“ (Frankfurt/M. 1966, S. 64f.). Der Entwurf nehme„für sich in Anspruch, allein zu wissen, was noch sittlich sei und was nicht, um dann seinen Willen dem Bürger durch Gesetz aufzuzwingen“. Sein Fazit: „So verfährt nur ein autoritäres Strafrecht.“

Als Reaktion auf den E 1962 veröffentlichen 1966/1968 liberale Juraprofessoren einen „Alternativentwurf“, der großen Einfluss auf die Strafrechtsreform haben sollte, die schließlich zwischen 1969 und 1974 in mehreren Teilschritten erfolgte. Das während der Großen Koalition beschlossene 1. Strafrechtsänderungsgesetz brachte auch die Entkriminalisierung der „einfachen Homosexualität“. Es trat am 1. September 1969 in Kraft. An diesem Tag war, um ein berühmtes Zitat von Hans-Joachim Schoeps abzuwandeln, auch für die Homosexuellen das Dritte Reich zu Ende. Gewichtigen Anteil daran hatte Gustav Heinemann (SPD), der bis zu seiner Wahl zum Bundespräsidenten im März 1969 das Amt des Bundesjustizministers in der Großen Koalition ausgeübt hatte. Die im E 1962 verdichteten Unwerturteile und Dammbruchsphantasien wirkten aber weiter fort. Bis 1973 blieb homosexuelle Prostitution verboten. Noch bis 1994 bestand mit § 175 eine höhere Schutzaltersgrenze als bei Heterosexualität.

Schon öfters wurde darauf hingewiesen, wie frappierend deckungsgleich die Aussagen des Justizministeriums von 1962 mit denen der Nationalsozialisten waren. Die Nazis hatten die Strafverschärfung von 1935 mit der „sittlichen Gesundhaltung des Volkes“ begründet, da die „gleichgeschlechtliche Unzucht“ „erfahrungsgemäß die Neigung zu seuchenartiger Ausbreitung hat“ (Schäfer, Leopold u.a: Die Novellen zum Strafrecht und Strafverfahren von 1935, Berlin 1936, S. 31). Der E 1962 warnt vor der „Entartung des Volkes“ und vor dem „Verfall seiner sittlichen Kräfte“, da die „gleichgeschlechtliche Unzucht“ ihrer „Natur nach die Tendenz in sich trägt, auf Dritte überzugreifen“.

Aufarbeitung, Rehabilitierung und Entschädigung
Das Bundesjustizministerium hat Anfang 2012 eine wissenschaftliche Kommission zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit des eigenen Hauses eingerichtet. Wir müssen darauf pochen, dass dabei auch die Geschichte des § 175 umfassend aufgearbeitet wird: Wer war im Justizministerium verantwortlich? Wer waren die Täter in Beamtenapparat und politischer Führung, die homosexuelle Menschen kriminalisiert, verächtlich gemacht und ihnen auch im demokratischen Staat Grundrechte verweigert haben?

50 Jahre nach dem E 1962, diesem Schlüsseldokument autoritären Denkens und Grundrechtsignoranz in der frühen Bundesrepublik, müssen die Täter benannt, aber auch die Opfer endlich anerkannt werden. Dass auch nach Ende des Nationalsozialismus zehntausende schwule Männer eingesperrt und um ihr Lebensglück betrogen wurden, ist ein monströser Schandfleck unseres Rechtsstaates. Alle Opfer des § 175 müssen rehabilitiert und entschädigt werden.

Günter Dworek, LSVD-Bundesvorstand



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