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Ein riesiges Problem

Positiver DialogPositiver Dialog – HIV-Prävention in St. Petersburg 

In Russland ist nicht nur ein positives Sprechen über Lesben, Schwule, bisexuelle, trans*- und intergeschlechtliche Menschen illegalisiert. Obwohl Sex offiziell ab 16 Jahren erlaubt ist, ist jegliche Sexualaufklärung mit unter 18jährigen verboten. Ausnahmen gibt es nur auf Antrag und muss jährlich erneuert werden. So haben in der fünf Millionenstadt St. Petersburg gerade einmal zwei (!) Menschen die Erlaubnis, auch mit über 15jährigen über Sexualität zu sprechen. Eine der beiden sitzt in den Räumen der Initiative Positiver Dialog vor uns. Sie ist Ärztin und Universitätsprofessorin, die folglich kaum dazu kommt, diese Erlaubnis auch zu nutzen.

Tabuisierung und Verbot, keine staatlichen Gelder für HIV-Prävention, fehlende Therapiebereitschaft bzw. kein Zugang zu medizinischer Behandlung – all das führt dazu, dass in Russland HIV und AIDS zu einem riesigen Problem geworden sind. Die meisten der internationalen Geldgeber für HIV-Prävention haben aufgrund der staatlichen Schikanen das Land verlassen. Nur der Global Fund ist noch geblieben, unterstützt zivilgesellschaftliche Präventionsstrategien in fünf Regionen. Ganz Russland besteht aus 83 bzw. 85 Regionen, wenn man die Republik Krim und Sewastopol mitrechnet. „Familiäre Werte“ und lebenslange Treue sind die Präventionsstrategie von offizieller Seite, nicht zuletzt Ergebnis des christlich-orthodoxen Einflusses auf die Gesetzgebung. Zudem gibt es eine sogenannte Bewegung der AIDS-Dissident*innen – die Existenz von HIV wird einfach geleugnet, selbst von Mitarbeitenden im Gesundheitswesen und Hausärzt*innen. Mittlerweile gab es erste Verurteilungen wegen dieser Ignoranz, aber kein offizielles Verbot.

Positiver DialogAktivist*innen und Ärzt*innen sprechen von einer neuen Welle der Infektion. Die Zahlen sind erschreckend. Insgesamt leben offiziell 825.000 Menschen mit einer HIV-Infektion, in St. Petersburg sind es Stand Oktober 2015 22.000 Bürger*innen und 12.000 Arbeitsmigrant*innen. Täglich kommen russlandweit 215 neu gemeldete Fälle dazu, in früheren Jahren waren es „lediglich“ 60. 2015 gab es100.220 Neuinfizierungen, vor allem unter den 29–49 Jährigen. 68% der Neuinfizierten leben in heterosexuellen Beziehungen, 2% haben sich durch gleichgeschlechtliche Kontakte infiziert, bei 30% kam es im Zuge von verunreinigtem Drogenbesteck zu einer Infizierung.

Lediglich 200.000, d.h. nur ein Viertel ist in Therapie. Während die Therapiebereitschaft bei MSM mit 80% sehr hoch ist, nimmt nur jede*r Zweite der in heterosexuellen Beziehungen lebenden HIV-positiven Menschen eine Therapie auf (55%). Bei den durch verunreinigtem Drogenbesteck Infizierten sind es lediglich 20%. So haben dann auch HIV-positive MSM, die besten Chancen zu überleben.

Doch nicht alle die eine Therapie wollen, bekommen sie dann auch. Während es von medizinischer Seite als notwendig erachtet wird, sofort nach dem positiven Testergebnis und der Registrierung mit der Therapie zu beginnen, fordert die staatliche Vorschrift, dass erst dann begonnen werden darf, wenn die Person weniger als 350 Helferzellen hat. Außerdem hat nur, wer in ST. Petersburg gemeldet ist, Zugang zu medizinischer Versorgung.

Positiver DialogVor diesem Hintergrund arbeitet das Projekt Positiver Dialog seit knapp 20 Jahren, seit 1,5 Jahren finanziert vom Global Fund, mit knapp 21 hauptamtlichen Kräfte. In dieser Zeit gab es unzählige Seminare, Beratungen und Outreachkontakte für Männer mit gleichgeschlechtlichen sexuellen Kontakten (MSM) oder Sexarbeiter*innen, die von staatlicher Seite kaum angesprochen werden. Angeboten werden kostenlose Schnelltests und eine sensible wie offene Aufklärung für alle Menschen ab 18. Einzige Unterstützung von der Stadt ist ein Raum in einer Klinik auf Initiative eines Oberarztes.

Markus Ulrich
LSVD-Pressesprecher

Zehn Aktivist*innen aus Hamburg und Berlin konnten im Rahmen eines gemeinsamen Projekts vom LSVD Hamburg, Coming-out, dem Sidy-by-side-Filmfestival und der Initiative Action eine Woche in St. Petersburg verbringen, um verschiedene Projekte zu besuchen. Im August war eine russische Delegation in Hamburg. Unterstützt wurde das Austauschprogramm vor dem Hintergrund der Städtepartnerschaft mit der zweitgrößten russischen Stadt von der Stadt Hamburg, der Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch und 2016 erstmalig auch vom Auswärtigen Amt.

 

 



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