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Salafismus in Deutschland

Thorsten Gerald SchneidersInterview mit Islam- und Politikwissenschaftler Thorsten Gerald Schneiders

Thorsten Gerald Schneiders lehrte zuletzt am Centrum für Religiöse Studien der Universität Münster. Herausgeber von u.a. „Salafismus in Deutschland“ und „Islamfeindlichkeit: Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen“.

Salafismus ist eine Form des islamischen Fundamentalismus. Was sind die Kernelemente der salafistischen Ideologie, z.B. im Hinblick auf Akzeptanz von Lesben, Schwulen und Transgender? 

Wie jede Form von Fundamentalismus ist der Salafismus ein Blick zurück auf die Wurzeln der Religion. Er gibt vor, die Religion genauso wie zu ihrer Entstehungszeit zu verstehen und zu leben. Es soll eine moralische Lebenswelt ins Hier und Jetzt geholt werden, die schon hunderte Jahren alt ist, im Fall des Islams 1400 Jahre alt. Zu dieser Zeit gab es natürlich auch andere Vorstellungen über homosexuelle Beziehungen als heute.

Aber nun lässt sich gerade nicht behaupten, dass Salafisten und andere islamische Fundamentalisten homosexuelle Beziehungen derart scharf verurteilen, weil das vor 1400 Jahren bereits derart praktiziert worden sei. Gerade mit Blick auf die Ursprünge und die Geschichte des Islams gab es in dieser Zeit zumindest eine gelebte Offenheit.

Homosexuelle Beziehungen zwischen Frauen haben damals eigentlich niemanden interessiert, denn Frauen haben in der Öffentlichkeit keine besonders tragende Rolle gespielt. Gleichzeitig wurden in der Literatur, und für die arabische und persische Poesie sehr, sehr prägend, mannmännliche Beziehungen gelobt und als eine gewisse Normalität dargestellt.

Es bildete sich zwar eine Theologie heraus, die versucht hat, genau das zu unterdrücken, aber ihr war über Jahrhunderte kein Erfolg beschienen. Das änderte sich erst in der Moderne.

Religionsgelehrte erklärten zum Beispiel, dass homosexuelle Praxis vor Gott nicht erlaubt sei, weil nach damaliger Vorstellung keine Ehe zwischen zwei Männern möglich war, da diese Beziehung keine Kinder hervorbringen konnte. Das kennt man ja auch aus anderen Religionen. Danach gelten diese Beziehungen als Ehebruch oder Unzucht. Diese Position wird von Salafist_innen und Fundamentalist_innen übernommen und besonders scharf ausgelegt, so dass sie letztlich nur die Forderungen nach der Todesstrafe dafür kennen. Klassisch islamische Gelehrte interessierten sich übrigens nicht für Gefühle und Zuneigungen. Das klassische islamische Recht sanktioniert Handlungen, nicht Emotionen.

Welche Erscheinungsformen des Salafismus gibt es in Deutschland? 

Die gemeinte Gruppe bezeichnet sich nicht als salafistisch, sondern schlicht als Muslime. Aus der Binnenperspektive unterscheiden sie sich vor allem entlang theologischer Spitzfindigkeiten. Geläufiger für uns ist die sicherheitspolitische Perspektive von außen mit einer groben Dreiteilung: Puristische Anhänger_innen leben den Salafismus sehr streng und genau, aber ausschließlich privat. Die zweite Gruppe, die sogenannten politischen oder missionarischen Salafist_innen versuchen salafistische Regeln aktiv in die Gesellschaft hineinzutragen bzw. die Gesellschaft danach zu verändern. Die dritte Gruppe, die „dschihadistische“ Gruppe, möchte dieses Ziel mit Gewalt durchsetzen. Letztere ist übrigens die Gruppe, über die wir in den Medien und öffentlichen Diskussion am meisten reden, etwa die IS-Terroristen. Innerhalb der salafistischen Szene in Deutschland ist das aber wiederum die kleinste Gruppe.

Können Sie da Zahlen nennen?

Laut Bundesverfassungsschutz gibt es derzeit 8.000 in Deutschland, davon gelten einige Hundert als gewaltbereit. Die Zahlenangaben sind jedoch ungenau, man entscheidet von außen, wer dazugehört und wer nicht. Zudem gibt es natürlich Anknüpfungspunkte zu konservativen und auch zu Mainstreamgedanken innerhalb des Islams. Das erschwert eine Abgrenzung weiter. Wir haben somit eine gewisse Dunkelziffer. Sicher ist nur, dass die salafistische Bewegung in Deutschland seit Jahren wächst.

Wen zieht die salafistische Bewegung in Deutschland an und warum? 

Grob geschätzt sind etwa 80–85% der Anhänger_innen männlich und jung, in der Regel zwischen 16 und 30 Jahren. Die meisten gehen nicht in diese Szene rein, weil sie auf der Suche nach dem wirklich wahren Glauben sind. Es sind meistens soziale Beweggründe. Sie fühlen sich ausgegrenzt von der Gesellschaft oder vom persönlichen bzw. familiären Umfeld, sehen keine Perspektiven für ein Leben innerhalb dieser Gesellschaft.

Man kann sich zum Beispiel klassische Außenseiter in der Schule vorstellen, die von Salafist_innen, auf welchem Weg auch immer, angesprochen werden. Unter ihnen erfahren sie dann eine Gemeinschaft, in der sie sich zum ersten Mal angenommen fühlen. Durch dieses Gefühl sind sie bereit, viele Dinge zu akzeptieren und zu übernehmen. Dass man sich voll zu verschleiern hat, dass Musik verboten ist, Partnerschaften nur zwischen Mann und Frau unter dem offiziellen Schutz der Ehe möglich sind, etc. Das sind einige Konstanten, die man durchaus willkürlich derart hervorhebt, und bewusst nach außen repräsentiert. Denn das sind die größten Provokationen für jene „offene“ Gesellschaft, die nicht offen genug ist, um einen selbst zu akzeptieren, und die man deshalb hasst.

Weil diese Bewegung insbesondere unzufriedene junge Menschen anspricht, ist sie aus meiner Sicht auch eine besonders ernstzunehmende und gefährliche Bewegung. Man hat labile Menschen, die man leicht beeinflussen, formen kann. Daraus ergeben sich konkrete Gefahren für Deutschland und darüber hinaus. Denn das Spektrum des Salafismus schließt ja eben auch Gewalt und die Abwertung von allen, die nicht zur eigenen Gruppe gehören, mit ein.

Wie kann man der salafistischen Bewegung dann begegnen?

Da ist natürlich die strafrechtliche Intervention, d.h. Gefahrenabwehr und konkretes Eingreifen, Verhaftungen, aus dem Verkehr ziehen. Das kann aber nur der Staat.

Dann gibt es die Zivilgesellschaft. Überzeugte Salafist_innen zu erreichen ist es fast unmöglich, denn hat man keinen Zugang mehr zu diesen Menschen, weil man ja automatisch der Feind ist, wenn man ihnen nicht zustimmt. Solche Leute lassen sich nicht über die argumentative Ebene mit rationalen Argumenten erreichen. Sie werden einem nicht zuhören, beim Versuch ihnen auszureden, dass ihre Ideologie falsch ist. Man muss versuchen, auf einer emotionalen Ebene an sie heranzukommen. Das kann man nicht, wenn man sie ein‑, zweimal die Woche sieht, vielleicht noch nicht mal, wenn man sie jeden Tag sieht. Es ist unglaublich schwierig an diese Person heranzukommen. Nur mit ganz viel Mühe, mit sozialpädagogischer-intensiver Arbeit an einer einzelnen Person und seinem Umfeld gibt es eine gewisse Möglichkeit, jemanden aus der Salafist_innenszene wieder herauszulösen.

Die Hauptaufgabe der Zivilgesellschaft liegt daher darin zu verhindern, dass Menschen überhaupt in diese Szene hineingeraten. Man muss sich das wie eine Sekte vorstellen. Es gibt auch Parallelen zu den Rechtsextreme. In der rechtsextremen Szene greifen ähnliche Mechanismen und Strukturen. Auch viele, die sich diesen Gruppen anschließen, tun das nicht aus hundertprozentiger ideologischer Überzeugung. Bei vielen spielt auch hier eine Rolle, dass sie endlich eine Gemeinschaft gefunden haben. Und die gibt man nicht so leicht auf.

Viele Flüchtlinge kommen gegenwärtig aus arabischen bzw. muslimischen Ländern. Wird die salafistische Bewegung hierzulande dadurch stärker?

Flüchtlinge sind eine zusätzliche Gruppe, aus dem sie potentielle Anhänger_innen anwerben können. Das ist sicherlich gegeben. Die Einschätzung der gesamten Lage ist jedoch schwierig. Denn syrische Menschen zum Beispiel sind ja zu mindestens zum Teil auch vor den IS-Terroristen geflohen. Warum sollten sie sich in Deutschland gerade in die Hände von Leuten begeben, die diese Ideologie zumindest unterstützen oder vorbereiten?

Andererseits hatte ich ja bereits erwähnt, dass viele junge Menschen, die sich in der Gesellschaft nicht angenommen fühlen, die sich als Außenseiter in Deutschland sehen, besonders anfällig für Rekrutierungsmaßnahmen der Salafist_innen sind.

Wenn man jetzt weiterdenkt und die Integration der Flüchtlinge schleifen lässt und die Fehler der vergangenen Jahrzehnten wiederholt, dann hat man vielleicht in vier, fünf Jahren durchaus auch derart frustrierte Persönlichkeiten, die trotz ihrer Erfahrungen in Syrien dazu neigen könnten, in diese Szene abzurutschen. Durch die Flüchtlinge ist definitiv Handlungsbedarf da, auch ein erhöhtes Risiko. Aber es ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht erkennbar, dass sich eine so große Gefahr entfaltet, dass man hier panisch werden sollte.

Man muss auch mit den Flüchtlingen präventiv arbeiten. Je mehr man sie alleine lässt, desto größer kann die Anfälligkeit werden. Aber letztlich ist das Stochern im Dunkeln. In größerer Anzahl haben wir die Flüchtlinge erst seit einem Jahr in Deutschland. Da kann man nur schwer verlässliche Prognosen geben. Es gibt zumindest Mechanismen und Abläufe, die man im Kopf haben sollte, weil es Überlegungen zufolge in diese Richtung gehen könnte.

Welche Fehler wurden in der Integrationspolitik gemacht, die sich nun möglichst nicht wiederholen sollten?

Sie müssen vor allem für eins sorgen. Die meisten jungen Menschen kommen erst einmal gezwungenermaßen hierher und stehen vor dem Nichts. Und es ist bereits eine Stresssituation, aus dem Heimatland fliehen zu müssen. Vor fünf Jahren hat kaum einer von denen, die heute hier sind, je daran gedacht, ihr Land zu verlassen. Mit der Flucht haben sie sich dazu entschieden, aktiv zu sein. Sie wollen handeln, anpacken, etwas tun. Wenn man gerade die jungen Menschen an dieser Stelle allein lässt, haben sie ein Problem. Ein großes Problem.

Dadurch erklären sich ganz viele Phänomene der Vergangenheit, beispielsweise Schlägereien in Flüchtlingsunterkünften, zum Teil auch die Ereignisse der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof und in anderen Städten.

Wenn die Leute zum Nichtstun verdammt sind und keine Möglichkeit haben, zügig einen Job zu bekommen, steigert das das Frustpotenzial — insbesondere nach der Erfahrung der Vertreibung und Flucht aus dem Heimatland.

Integration muss an allererster Stelle dafür sorgen, dass die, die kommen und bleiben dürfen, sich schnell eine Perspektive schaffen können. Wenn wir die Menschen erst sechs Monate und länger in einer Massenunterkunft oder irgendwo anders zum Nichtstun verdammen, und ihnen erst dann die Möglichkeit geben, überhaupt einen Asylantrag einzureichen, schaffen wir uns Probleme. Bis über den Antrag entschieden ist, vergeht wieder Zeit. Und wie soll man ohne diese Entscheidung eine reguläre Arbeit finden? Wer stellt jemanden an, von dem er weiß, dass der möglicherweise bald wieder gehen muss?

Das heißt, viele Flüchtlinge sind auf sich allein gestellt. In den Unterkünften sind sie unter sich. In einem fremden Land. Was macht man da? Man hängt sich an Leute, die man kennengelernt hat. Die schon mehr Erfahrung in Deutschland haben. Nur, wenn diese Leute schon irgendwie kriminell sind, dann können Sie sich ausrechnen, dass es eine gewisse Wahrscheinlichkeit gibt, dass auch die Neuen auf die falsche Bahn geraten. Es werden nicht alle Neuen zum Problemfall. Aber dass der eine oder andere mit solchen angespannten Situationen schlechter umgehen kann als der andere, ist dann doch menschlich nachvollziehbar.

Da muss Integration also rein. Als aller erstes.

Pegida und Co verteidigen angeblich „das Abendland“ gegen „die Islamisierung“ und verbreiten meist auch homophobe Parolen. Welche Ansatzpunkte gibt es, gegen Islamfeindlichkeit und Homophobie gemeinsam vorzugehen?

Man muss gegen beides vorgehen. Das ist eigentlich die Kernerkenntnis aus meiner Beschäftigung mit Salafismus und Islamfeindlichkeit. Den Anhänger_innen von Pegida ist es im Grunde genommen inhaltlich egal, was ihnen da vorgesetzt wird. Sie haben ein Ziel: Möglichst wenig Fremde, möglichst wenig anderes Verhalten in der eigenen Umgebung zu tolerieren. Anders sein, heißt in diesem Fall eben muslimisch sein, oder homosexuell sein. Von den meisten Pegida-Anhänger_innen wird beides abgelehnt.

Momentan bietet sich Islamfeindlichkeit aber als Form gruppenbezogener Menschlichkeit ganz besonders an, weil man sehr leicht auf echte Probleme verweisen kann: IS-Terroristen, Ehrenmorde, Frauenrechte etc. Das macht die Debatte so schwierig. Man kann pauschal und stark vereinfachend gegen Muslime hetzen, und wenn man kritisch darauf angesprochen wird, kann man immer sagen: „Ja, was denn? Der Islam hat doch ein Problem. Schaut nach Syrien, schaut euch die Gewalt an. Wir weisen nur darauf hin“. Und angesichts der einseitigen öffentlichen Debatten — Studien zufolge findet eine Berichterstattung über den Islam zu drei Viertel in negativen Kontexten, eben Gewalt, Terror, Rückständigkeit, statt — verfangen solche Argumentation bei manchen Menschen. Wenn Sie nun aufklären wollen, müssen sie erst einmal diesen Ballast abräumen: Für die IS kämpfen vielleicht 10.000 bis 20.000 Menschen mehr oder weniger freiwillig in einer Bürgerkriegsregion, wir haben aber 1,5 Milliarden (!) Muslim_innen in der Welt.

Bleiben wir in Deutschland. Es sind immer die schlimmen Fälle, die herausgegriffen und besonders hervorgehoben werden. Und aus Diskussionen unter dem Stichwort „Ehrenmord“ — etwas, dass so oder ähnlich auch in anderen Religionen und Kulturen gibt — machen manche dann eine grundsätzliche Unterdrückung der Frau im Islam. Dabei sind die meisten Musliminnen in Deutschland nicht unterdrückt, und fühlen sich auch nicht unterdrückt. Über die reden wir aber nicht. Die nimmt man einfach nicht wahr. Themen, über die man lauter schreien kann, haben gemäß unserer Aufmerksamkeitsökonomie einfach mehr Erfolg. Deswegen bietet sich das Thema Islam so gut an.

Homosexualität ist sicherlich nicht etwas, das in Deutschland komplett von allen Leuten als gewöhnliche Form des Zusammenlebens akzeptiert wird. Aber wir haben schwule Politiker und Showstars, was von außen betrachtet als relativ normal gilt. Gerade auf einer intellektuellen Ebene ist die Akzeptanz von Homosexualität meines Erachtens größer als die Akzeptanz des Islams. Beim Islam müssen sie immer mit dem Querverweis zu den Gewalttaten rechnen, das haben sie bei Homosexualität so nicht.

Vielen Dank für das Gespräch

Das Interview führte Markus Ulrich (LSVD-Pressesprecher)

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